Gasteretal
01.02.2015
Mit jeder neuen Kehrschleife gewinnt der „Lötschberger“, so heisst der Zug der mich zu meinem Ausganspunkt bringt, an Höhe. Kurz nach der letzten Schleife hält er am Bahnhof Kandersteg. Ich steige aus. Der Himmel ist trüb und grau. Auf dem leeren Vorplatz steht einsam und verlassen mein Bus. Ausser mir steigt niemand zu. So habe ihn ganz für mich allein - was für ein Luxus! Seitdem ich mein Auto, nach Möglichkeit, zugunsten des öffentlichen Verkehrs stehen lasse, staune ich immer wieder über das gut ausgebaute Netz unseres „Service Public“. Wie oft sind diese Transportmittel - ob Zug oder Bus - in den Randregionen, zu den Randzeiten, kaum besetzt und fahren trotzdem.<
Nach kurzer Fahrt auf schneebedeckter Strasse hält der Bus an der Endstation, der Talstation der Seilbahn hoch zum „Sunnbühl“. Ein paar Minuten Fussweg und dann endet die geräumte Strasse vor einem zusammengestossenen Schneewall.Weiter geht’s mit angeschnallten Skiern auf der schmalen Bergstrasse hoch ins Gasteretal. Der Bau dieser Strasse geht auf 1926 zurück. Erstellt wurde sie, im Zuge eines Beschäftigungsprojektes, von Arbeitslosen. Der erste Weg durch die enge „Clus“ dürfte jedoch bereits 3000 vor Christus existiert haben. Die damaligen Benutzer waren Hirten und Handeltreibende auf dem kürzesten Weg zwischen dem Berner Oberland und dem Wallis. Aufgrund von Münzenfunden, oben am Pass, kann angenommen werden, dass sogar die Römer die „Abkürzung“ über das Gasteretal und den Lötschenpass kannten.
Etwas mehr als eine halbe Stunde bin ich nun unterwegs. Vor mir breitet sich die grosse Ebene des Hochtals aus. Weiss verschneit die weitflächigen Schuttbänke mit einem Collier aus Kieselsteinen geschmückt, umflossen von den glasklaren Quellwassern der jungen Kander. Rechtsufrig führt der Talweg weiter.
Ich überquere die Brücke, laufe entlang einer langen Waldschneise an deren Ende das Hotel Waldhaus steht. Erbaut 1910. Das Gebäude befindet sich fast noch im ursprünglichen Zustand. Nur auf der einen Seite gibt es einen Anbau, von dem man sich ein wenig mehr Anpassung an das Hauptgebäude gewünscht hätte. Doch ansonsten ist das Hotel gut und liebevoll erhalten. Zusammen mit ein paar ganz wenigen schweizweit, gehört es zu den Berghotels, die weder über fliessend Wasser noch Strom verfügen. (Nur für die Abwaschmaschine gibt es einen kleinen Generator.) Dementsprechend gemütlich und urig ist es hier zu übernachten. Serviert wird das Nachtessen bei Kerzenlicht vor dem prasselnden Kamin. Tief verschneit träumt es jetzt wohl von der allsommerlichen, fröhlichen Gästeschar.
Zu meiner Linken und Rechten schiessen imposante Kalkwände in den Himmel hoch und geben dem Tal die klassische Ansicht eines U-Tals. Grossflächige, frei mäandernde Flussläufe der Kander, durchsetzt mit ausgedehnten Erlenbeständen, sowie hochstämmige Tannenwäldern, prägen den flachen Talboden. Dazwischen breiten sich einige ausgedehnte Weiden, die der Mensch in zäher Arbeit der Natur abgetrotzt hat. Die schlankwüchsige Tannen erinnern mich an den Jura. Die Weidzäune parzellieren die Felder und verleihen der Landschaft Struktur und Ordnung.
Die Stille wird hie und da durch einen einsamen Meisenruf unterbrochen. Unter der Decke des Winterschnees schlummert der fast ausgetrockneten Wildbach vor sich hin. Leise höre ich ab und zu das Gluckern des Rinnsals. Im Sommer und Herbst kann er sich jedoch innerhalb weniger Stunden in eine reissende, braunschwarze, tosend grollende Schlamm-Geröllbach-Lawine verwandeln. Am 10. Oktober 2011 wüteten die Wasser im Tal solcherart, dass man gut von „Land unter“ hätte sprechen können. Im Talhintergrund türmt sich heute das Geröll zum Teil in einer Höhe von fast 15 Meter über dem einstmaligen Weidboden.
Wieder einmal ist die Zeit schneller vorbeigegangen als der Tag lang ist. Wie im Labyrinth schlängelt sich der Wanderweg unter schneebeladenen Baum- und Tannenzweigen durch den hier niedrig stämmigen Mischwald. Nicht immer ist der Weitergang ersichtlich, da ein dickes Winterpolster alles ebenmässig überdeckt. Schlussendlich mündet er in die Strasse. Eine einsame Schneeschuhspur führt auf ihr talaus. Mit weit ausholendem Gleitschritt folge ich ihr, vorbei an einer alten Scheune und denke: «Eigentlich könnte das jetzt auch in Schweden sein».
In aller Dunkelheit treffe ich in Kandersteg ein. Dieser kleine, sympathische Ort am Nordportal des Lötschbergtunnels. Lachend und scherzend kommt mir am Dorfeingang eine gutgelaunte, fröhliche Menschengruppe entgegen. Die Damen in der Überschwenglichkeit des Stils der Belle Epoque gekleidet. Natürlich, ich habe es, ob der archaischen Einsamkeit oben im Gasteretal, ganz vergessen: Zum sechsten Mal findet hier die Belle Epoque Woche statt. Im Dorfzentrum mit seinen alten, ehrwürdigen Gebäuden, den tiefverschneiten Dächern und Bäumen, den mit Schnee bedecken Gehsteigen, Wegen und Strassen fühle ich mich in ein "Wintermärchen" versetzt. Dazu trägt die, in angenehme Warmtöne gehaltene, Strassenbeleuchtung bei. Sie erinnert an Kerzenschein und Petrollampenlicht.
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