Hochtouren
24.04.2015
Wie lässt sich Stille mit Worten beschreiben? Diese Frage geht mir beim Anblick des Konkordiaplatzes durch den Kopf. Dieser wahrlich königliche Platz mitten im Herzen der Berner Alpen.
Es ist Mittag. Aus den Tiefen des Rucksacks hole ich den Essensbeutel und die Thermosflasche mit heissem Tee hervor. Genüsslich verspeise ich die einfache Mahlzeit auf meinem Panorama-Aussichtpunkt über dem weitläufigen Platz gelegen, dessen Ansicht mich in seinen Bann zieht. Doch warum packt mich denn diese Aussicht so sehr? Fehlt doch das dramatische Wolkenspiel. Die theatralische Ausleuchtung der Landschaft durch die tiefstehende Sonne. Das erste schüchterne Tageslicht, das sich in die Dunkelheit der Nacht hineinmischt. Es fehlen die schwindelerregend hohen Gipfel und die steilen Bergseiten. Es fehlen die im schwarzen Nichts verschwindenden, klaffenden Gletscherspalten. Es fehlt der Wind, der Sturm. Eigentlich fehlt so ziemlich alles was es braucht, damit mich eine Landschaft begeistert.
Und doch: Gerade wegen der Abwesenheit des Spektakulären, konzentrieren sich meine Sinne zwangsläufig auf das was ist, die Landschaft vor mir, die nur aus dem blendendem Weiss der Mittagszeit zu bestehen scheint. Darüber schwebt, Luftspiegelungen gleich, eine meditative Stille. Blau und klar der Himmel über mir. Hinzu kommt die fast körperlich spürbare Ausstrahlung des Jahrmillionen alten, zeitlosen, vergletscherten Gebirges um mich herum. Kein Ton - nirgends. Nur das leise Rauschen meines Blutes in mir. «Der Raum des Geistes, dort, wo er seine Flügel öffnen kann, das ist die Stille. (Le Saint-Exupéry).»
Wie trunken die Landschaft, ich selber, von dem alles durchdringenden Licht. Dieses intensive, betörende Licht! Es schwingt in mir drinnen, sodass ich mir zuweilen nicht mehr sicher bin, ob das was ich sehe eine Halluzination oder das getreue Abbild von dem ist, was meine Augen wahrnehmen.
Mit weit ausgebreiteten Flügeln steht mein Geist da. Ein paar kräftige Schläge, mehr bräuchte es nicht, damit er sich mühelos in die Höhen schwingen könnte.
Ich erinnere mich – ganz am Anfang meiner Bergfahrten – wie ich zum ersten Mal das Jungfraujoch bestiegen habe. So einfach mit der Bahn hochfahren kam für mich nicht in Frage. Den Erstbesteigern der Jungfrau wollte ich es gleichtun. Nach langem, beschwerlichen Anmarsch, so wie früher im Himalaya von Katmandu zu einem weit entfernten, von der Wildnis umgebenen Berg, reisten die Gebrüder Meyer aus Aarau 1811 über das Entlebuch und die Grimsel ins Lötschental. Bergführer, damals noch verwegene Gemsjäger, und Träger vervollständigten dieses Häuflein der Mutigen. Von Blatten stieg dann die kleine Expedition über die Lötschenlücke und den Konkordiaplatz herauf. Obwohl ich frühmorgens in der Fafleralb loszog, erreichte ich den Konkordiaplatz erst kurz nach Mittag. Heiss, viel, viel heisser als heute war’s. In meiner Trinkflasche nur noch ein paar Tropfen Flüssigkeit. Vom Zenit schien die Sonne unbarmherzig herab und brannte mich, mit der Wucht ihrer Hitze, fast in den Firnschnee hinein. Damals ist mir zum ersten Mal klargeworden, wie zum Verzweifeln weit die Distanzen in den Bergen sein können. Stunde um Stunde verging, endloses auf der Stelle treten – so fühlte es sich an. Und der Konkordiaplatz wollte und wollte einfach nicht enden. Nur der Umstand, dass ich sah, wie sich ein Ski immer vor den anderen schob, überzeugte mich vom stetigen Vorwärtskommen.
Mit etwas steifen Beinen stehe ich auf, schnalle die Skier an, schwinge den Rucksack auf die Schultern, drehe mich nochmals zum Gipfel des Trugbergs um, von wo ich herunter gekommen bin. Was ist das für eine rassige, genussvolle Abfahrt gewesen. Bogen an Bogen, mit grossen Radien euphorisch durch den aufgeweichten Sulzschnee gezogen, von einem Hang zum nächsten, mal steiler, mal flacher, mal breiter mal enger. Fast tausend Höhenmeter Skifahren vom Feinsten. Nach ein paar kurz geschwungenen Kurven, stehe ich auf dem Konkordiaplatz. Blick gegen Norden und Westen, Richtung Jungfrau, Rothalhorn, Kranzberg, Gletscherhorn, Äbeni Flue, Louitor, Lötschenlücke und die Aletschhorngruppe. Obwohl Mittag längst vorbei ist, trägt die Schneeoberfläche mein Gewicht noch immer. So fahre ich, ohne gross etwas dazutun zu müssen, über den kaum wahrnehmbar abfallenden Gletscher. Immer wieder halte ich an, bei solchen Verhältnissen eilt es ja nicht, um mich an dieser grossartigen Landschaft statt zu sehen.
Eine kleine Ewigkeit dauert es bis der Konkordiaplatz, dessen Distanzen nicht ganz einfach zu schätzen sind, hinter mir zurück bleibt. So mühelos und genussvoll wie heute gelingt die Durchquerung nicht immer. Komme mir wie in einem fahrenden Zug am Fensterplatz sitzend vor. Mit mässigem Tempo gleite ich auf meinen Skiern dahin. Schaue mal links dann wieder rechts und wieder links, so wie es mir gerade beliebt. Ab und zu werfe ich einen aufmerksamen, wachsamen Blick nach vorne. Doch der Gletscher liegt spaltenlos, gut verschneit, mit kompakt tragender Oberfläche vor mir, wie ein weisser ausgerollter Teppich.
Zu meiner Rechten, also gegen Westen, gewinnt das Dreieckhorn zunehmend an Grösse und Mächtigkeit. Charakteristisch ist die gegen Norden ansteigende wuchtige Gletscher-Balkon-Rampe, oberhalb der senkrecht abfallenden dunklen Felswand. Bei günstigen Schnee- und Lawinenverhältnissen bietet sie einen sicheren, jedoch sportlichen Aufstieg zum Dreieckhorn, verbunden mit einer fulminanten Skiabfahrt zurück.
Geradeaus, in Fahrtrichtung, noch in beträchtlicher Ferne erhebt sich das Eggishorn. Der Nordgrat scharf wie ein Schiffsbug. Er teilt den Gletscher, der längste der Alpen, in zwei Arme auf. Doch derjenige nach Fisch hinunter ist seit Menschengedenken abgeschmolzen. In den vergangenen rund 150 Jahren hat auch der Hauptstrom fast zwei Drittel seines Eisvolumens eingebüsst. Heute verkümmert er zusehends und verkriecht sich immer mehr in den schattigen Tiefen der Massaschlucht. Ob dieses Gedankens habe ich das Ende der oberen Plateauebene erreicht. Vor mir spaltet sich nun der Gletscher, an einer Geländestufe, in gutmütige Schründe auf. Fertig also mit „crusing along“. Jetzt ist erhöhte Aufmerksamkeit gefordert. Auch ist es wärmer geworden und in der Nähe der ausgeschmolzenen Steine und Geröllrippen heisst es, wegen der Hohlräume, gut aufzupassen. Ein äusserst reizvoller Kontrast zum Gletscherweiss bilden die türkisblauen Schmelzwasserseelein.
Über ein weiteres Plateau und eine weitere Geländestufe, die ich dieses Mal links umfahre, passiere ich Märjela im Osten – das kleine Hochtälchen auf dem Weg hinunter nach Fiesch. Meine Route verläuft Richtung Westen, eingeklemmt zwischen den Hängen des Eggishorn und den Randspalten des Gletschers. Aufgrund des schneearmen Winters sowie der fortgeschrittenen Jahreszeit erfordert die Wahl des Weges ein wenig Spürsinn und Fantasie. Der Lohn sind ein paar tolle Ansichten. Doch das kleine Labyrinth hat seine Zeit gekostet. Die Uhr zeigt bereits auf fünf Uhr abends. Beim endgültigen Verlassen des Eises stosse ich auf die Originalroute, welche hier von der Gletschermitte her kommt. Schnell sind die Felle auf die Skier aufgezogen. Noch ein Schluck Tee, ein paar Bissen luftgetrockneter Lachs und weiter geht's.
Der letzte Aufstieg für heute liegt einladend, in der warmen Abendsonne vor mir. Zügig und leichtfüssig nehme ich ihn in Angriff. Nicht jedoch ohne immer mal wieder, ob den eindrücklichen Rückblicken auf den Gletscher und die Bergketten, einen kurzen Fotostopp einzulegen. Mit dem letzten Sonnenlicht auf der Wannenhorngruppe erreiche ich den Grat, nun doch ein wenig müde aber glücklich und zufrieden ob des prachtvollen Tages.
Copyright Bild & Text: Christian von Almen. Nutzungsbedingungen: Impressum/ABG. Je nach Verwendungszweck stelle ich meine Bilder unter der "Creative Commons Lizenz" auch kostengünstig oder kostenlos zur Verfügung.
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