Hochtouren
20.03.2018
Von hier gesehen sind sie dort, wo ich hergekommen bin, noch kaum sichtbar. Ein verschwommenes Etwas in beträchtlicher Ferne, mehr nicht. Mit zunehmender Nähe gewinnen sie allerdings rasch an Form und Gestalt. Unwillkürlich denke ich an weit voneinander ausgerollte Teppichläufer. Parallel zueinander liegen sie streifenweise über dem Ewig Schneefeld, das ich soeben durchquert habe. Der Himmel darüber bedeckt, in einem verhaltenen Hellgraugelb. Mit dem Weiss der Schneeoberfläche vermischt es sich zu einer Landschaft in Moll. Ich könnte mich jetzt in sie hinein sinken lassen. Ich könnte mein Schrittmass anpassen und in einer Stimmung von Weltvergessenheit zum Gipfel hoch steigen. Wären da nicht die Teppichbahnen. Sie mischen die Wintermelancholie um mich herum kräftig durcheinander. Aus Wind und Schnee gewoben, leuchten sie hell auf. Wohl aus dem gleichen physikalischen Grund wie Wasser, wenn es sich mit Luft vermischt. Auf diesen filigranen Unterlagen türmen sich meterhohe, unsichtbare Windmauern. Mit rasender Geschwindigkeit traversieren diese, hintereinander gestaffelt, den Firn, überwinden mühelos den Hang, überspülen mich, jagen weiter, der Horizontlinie zu. Wie zyklisch anbrandende Wellen brechen sie auf mich ein. Etwa jede siebte ist besonders heftig, gefolgt von einer ein paar Sekunden länger dauernden Windstille.
Für einen kurzen Augenblick halte ich an, stütze mich auf beiden Skistöcke, atme ein paar Mal tief durch. Mein Blick schweift zurück über das hinter mir liegende Firnfeld. Schon nach ein paar wenigen Metern verliert sich meine Skispur auf dem Schnee. Als wäre ich aus dem Nichts hier hergekommen. Bei diesem Gedanken vermischt sich in mir das Gefühl von verlorener Einsamkeit mit einer ordentlichen Portion Abenteuerlust.
Mit zunehmendem Alter, so scheint es, wächst in mir das Bedürfnis nach den alltäglichen Dingen des Komforts und der Bequemlichkeit. Nur, sobald ich mich in dieser Welt so richtig wohlig eingelebt habe, klopft die Sehnsucht an meine Tür. Zuerst nur leise verhalten, dann energisch, einfordernd. Im Nu befällt mich von neuem das Verlangen nach dieser sich im verschwindenden befindenden Landschaft, die Sehnsucht nach Gipfeln, Gletschern und Graten, nach dem Licht. Natürlich weiss ich: Die einzige Verlässlichkeit in meinem Leben, in dieser Welt, ist die Veränderung. Nur, in diesem Fall ist das kein wirklicher tröstender Gedanke. Auch nicht was mich selbst anbetrifft. Es werden andere Tage kommen. Gerade jetzt scheinen sie allerdings noch in beträchtlicher Ferne zu liegen.
In weit angelegten, mässig ansteigenden Zicks und Zacks geht es gipfelwärts. In der einen Richtung schiebt mich der Wind von hinten, in der anderen packt er mich von vorne. Stoisch, wie ein erfahrenes Schweizer Trainpferd, setzte ich einen Fuss vor den anderen. Nur kleine Schritte, damit mich ein unerwartet kräftiger Stoss nicht aus dem Gleichgewicht wirft. Die mehrschichtig übergezogenen Kleider schirmen meinen Körper zuverlässig vor dem rauen Wetter ab. Flauschig warm fühlt sich die innerste Schicht auf meiner Haut an. Mütze, Kapuze, Maske und Sturmbrille schützen Gesicht und Kopf vor Kälte und Triebschnee. Die Brille formt einen kleinen, windstillen Raum vor meinen Augen. Durch den hindurch kommt die Landschaft zu mir herein. Fühle mich wie ein Taucher im Anzug mit Brille. Wie er, bewege auch ich mich in einer Welt, in die ich eigentlich nicht hineingehöre.
An die dreihundert Höhenmeter steigt der Hang aus dem Becken des Ewig Schneefelds auf 3‘692 Meter hoch. Auf der Karte gleicht er einem gegen Norden hin aus dem Gleichgewicht geratenen, spitzwinkligen Dreieck. Unten vergletschert, oben verfirnt, der Gipfel aus Fels. An einem sonnigen Tag leuchtet der Stein in einem warmen Siena-Ocker. Obwohl seine Nachbarn, Trugberg, Mönch, Eiger, Fiescherhörner mit imposanteren Rundblicken auftrumpfen, ist das Walcherhorn gleichwohl ein lohnendes Ziel, ein hübscher Grenzpunkt zwischen den zentralen sowie den östlichen Berner Alpen, mit eindrücklichem Tiefblick auf das Eismeer.
Auf den letzten paar Höhenmetern legt sich der Sturm. Vereinzelte Nachzügler-Windstösse erinnern freilich an das Brausen und Toben des Windes, an das trockene, laute Knattern meiner Kapuze. Doch auch ohne Wind ist es noch immer kalt. Heute Morgen wurden auf dem Jungfraujoch minus 20 Grad gemessen. Ungeachtet dessen krame ich die Kamera aus meinem Rucksack hervor. Entgegen meiner gehegten Befürchtungen funktioniert diese selbst bei den aktuellen Minustemperaturen tadellos. Mache ein paar Gipfelbilder, »for memories‘ sake«. Ein prüfender Blick zum Himmel mahnt derweil zum baldigen Aufbruch. Weiter nicht schlimm, ich kenne ja die Aussicht. Zudem werde ich bestimmt wieder herkommen.
Während der Abfahrt erfordert der Windharsch meine volle Aufmerksamkeit. Nach etlichen achtsam angesteuerten Bögen, folgt eine kurze, anspruchsvolle Steilpassage, die zu einer langen, leicht abfallenden Traverse führt. Eine halbe Stunde später erreiche ich wohlbehalten den Ausgangspunkt meines Aufstieges.
Routiniert klebe ich die Felle auf die Skier. Bevor es bergauf geht, trinke ich einen Becher, brühend heisser Tee. Gebe ein wenig Schnee dazu, trinke in kleinen Schlückchen, spüre, wie sich die Wärme in mir ausbreitet. Welcher Luxus. In leichtfüssigen Ziehschritten geht’s nun dem Obern Mönchsjoch zu. Zu meiner Linken steilt sich die imposante Ostwand des Trugbergs einer vergilbten Sonne entgegen. Das fahle Licht ebnet die Gletscherfläche vor mir ein. Undeutlich, jeglicher Konturen beraubt, streckt sich der Hang verjüngend zur Lücke hoch. Was bin ich froh zu wissen, dass der Winterschnee die wenigen Spalten, die es hier hat, hoch überdeckt.
Oben angekommen, werden mir ein weiteres Mal die dramatischen Klimaveränderungen bewusst. In den Achtzigerjahren betrug hier der jährliche Winterschneezuwachs acht Meter und mehr. In den letzten Jahrzehnten, vor allem auch im vorletzten Winter, fiel und fällt der Saldo indes negativ aus. Ich erinnere mich gut daran, wie der Gletscher vor mir, westlich des Obern Mönchsjochs, das Becken randvoll füllte. Doch seit ein paar Jahren sinkt seine Oberfläche beängstigend schnell ab. Wo sie einst zum Grat hin leicht aufstieg, befindet sich nun eine jährlich tiefer werdende Mulde. So erfolgt heute der Einstieg nicht mehr bequem vom Gletscher aus, sondern über ein rund vier Meter hohes Felswändchen.
Etwas wehmütig gleitet mein Blick über die »sterbende« Landschaft, bleibt an den Viertausender von Mönch und Jungfrau hängen, schweift hinüber zum Louitor und Kranzberg, folgt dem vor mir liegenden Jungfraufirn zum Konkordiaplatz hinunter, rastet schlussendlich auf dem Aletschhorn. Über seinem Gipfel liegt nun eine kompakte Wolkenschicht, erstreckt sich von Westen her über den ganzen Himmel. Kein Windhauch nirgendwo. Überall tiefe, ja fast drückende Stille. Die Berge haben sich in ihr Innerstes zurückgezogen. Aus dieser doch eher traurigen Stimmung heraus erklingen in meinem Kopf unversehens einzelne Klaviertöne. Zuerst nur leise, als suchten sich mich. Reihen sich alsbald zu einer ganzen Tonkette aneinander. Einzelne fallende, kristallklare Wassertropfen. Einfache, zeitlose Dreiklänge, langsam, schwebend: Der Klang der Stille. Arvo Pärt, für Alina.
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